
Simone Berger im Palazzo
   Simone Berger zeigt ihre Arbeiten im grossen Saal der Kunsthalle Palazzo. 
   
   Auf den ersten Blick nimmt der Betrachter grossformatige, jeweils aus 
   
   verschiedenen Leinwänden zusammengesetzte Werke wahr. Auffallend ist 
   
   nicht nur, dass sich die Sujets meistens über mehrere Leinwände hinziehen, 
   
   sondern auch die Technik, mit denen diese gestaltet wurden.
   Seit Alain Jaquets «Dejeuner sur I'herbe» (1964) gehört die mechanische 
   
   Umsetzung von photographischen Techniken zur Erlangung eines neuen 
   
   synthetischen Bildes (mechanical art) zur Kunstschreibung. Griff Jaquet 
   
   auf bereits bestehende Bilder 
   
   (siehe «Le Dejeuner sur I'herbe» von Gustave Manet) zurück, filmt Simone 
   
   Berger mit ihrer eigenen Videokamera Sujets, die sie dann mit einer selbst 
   
   entwickelten Technik über Computer, schwarz/weiss-Laserausdrucken zu 
   
   Siebdrucken auf Leinwand verarbeitet. Durch diese verschiedenen Phasen 
   
   der mechanischen Umsetzung wird die ursprüngliche Videosequenz 
   
   restrukturiert, ein bereits synthetisches, d.h. in diesem Fall elektronisches 
   
   Bild wird in ein neues, auf Leinwand übertragenes transponiert. Das 
   
   gestalterische Moment besteht hier aus verschiedenen Phasen, die man 
   
   mit der klassischen Malmethode vergleichen könnte: skizzieren mit der 
   
   Videokamera, auswählen der «besten» Skizze durch den Computer, 
   
   grundieren durch den Laserausdruck, «malen» mit dem Siebdruck auf 
   
   Leinwand. Auf alle diese Phasen nimmt die Künstlerin direkten Einfluss; 
   
   sie entscheidet, welche Ausschnitte aus dem Videoband ihr relevant 
   
   erscheinen und mit welchen Farben sie den Siebdruck bearbeitet.
   Es entstehen so multimediale Werke, die auf die momentan modernsten 
   
   Hilfsmittel in der Kunst zurückgreifen: Video, Computer und Laserdrucker. 
   
   Es ist jedoch keineswegs so, dass diese Techniken Simone Bergers Arbeiten 
   
   dominieren, sie setzt sie lediglich als Hilfsmittel zur Umsetzung Ihrer Ideen ein.
   Ihre Arbeiten, mit dem Übertitel «Private Urbanity», handeln von anonymen 
   
   Menschenmassen in Grossstadtarchitekturen, von Grundelementen wie Wasser 
   
   und Feuer. «Tower» (1991) wird links und rechts flankiert von der Brooklyn-Bridge 
   
   in New York; in der Mitte, auf kleineren Leinwänden, erblickt man eine vorwärts-
   strebende Menschenmasse, darunter einen rötlich gefärbten, reissenden Fluss. 
   Architektur als omnipräsentes Element, Brükken als Zeichen für Übergänge und 
   
   Menschenmassen, die zielstrebig in eine Richtung strömen, begleitet von einem 
   
   Naturelement, dem Fluss, beinhalten sicher Ansätze zu einer metaphorischen 
   
   Leseweise dieser Arbeiten. Ist es, wie wenn die Künstlerin, indem sie das fliessende 
   
   Videobild zum Stillstand bringt, einzelne Sequenzen auswählt und arretiert, die 
   
   ständig auf die moderne Gesellschaft einprasselnde Bilderflut zum Anhalten bringen 
   
   wollte um einen Moment herauszugreifen und die anonyme Urbanität zum privaten 
   
   Moment ( Private Urbanity ) machen will: die Masse wird als aus verschiedenen 
   
   Individuen bestehend wahrgenommen und die Frage nach dem warum und wohin, 
   
   nach der Hektik und der Ruhe der vielen Leute durchstreift einem die Gedanken.
   In «Late Midnight Bus» (1992), einer Serie von drei kleinen Leinwänden, erkennt 
   
   man das Vorbeiflimmern eines New Yorker Taxis; hatten die Futuristen versucht, 
   
   die Geschwindigkeit in der Malerei darzustellen, geht Simone Berger den um-
   gekehrten Weg: das Video, das ihr problemlos ermöglicht, die Geschwindigkeit 
   
   einzufangen, zerschneidet sie in verschiedene Sequenzen, die sie mit der oben 
   
   beschriebenen Technik auf Leinwand fixiert. «Late Midnight Bus» erscheint wie 
   
   ein Augenzwinkern der Künstlerin auf Muybridges und Mareys photographische 
   
   Versuche, die Bewegung darzustellen. Waren es bei ihnen Menschen und Tiere, 
   
   deren Bewegungen sie mit der Kamera darzustellen versuchten, ist es bei Simone 
   
   Berger ein New Yorker Taxi, Fortbewegungsmittel par excellence der Grossstadt-
   gesellschaft.
   «Private Urbanity» ist jedoch in erster Linie die individuelle Vision des Grossstadt-
   lebens, gesehen von einer Künstlerin, die ihre Sensibilität ständig auf die Probe stellt, 
   
   die sich nicht scheut, von visuell bekannten Schemen abzuweichen und so dem 
   
   Betrachter eine neue Sichtweise darlegt; der Realität entnommene Bilder, diese 
   
   «Ikonen», die in der Zeit der Massenmediengesellschaft als «wahr» dargestellt werden,
   die ständig über die häuslichen Bildschirme flimmern, setzt Simone Berger zu 
   
   anderen Kombinationen zusammen und polt sie auf diese Weise um. Dazu kommt, 
   
   dass sie ihre Videobilder nicht den Massenmedien entnimmt, sondern sie 
   
   selbst filmt: die sehr private Vision der Künstlerin und nicht eines anonymen 
   
   TV-Filmers bekommt in «Private Urbanity» einen hohen Stellenwert. 
   Hat sich Simone Berger während den letzten Jahren vor allem mit dem Gross-
   stadtleben auseinandergesetzt, geht sie in Ihrer letzten Arbeit «Scarabeus» (1992) 
   
   näher an die Sujets heran; die makrokosmische Vision der Massen weicht einer 
   
   Nahansicht vom Feuer des Liestaler «Chienbäse» (ein mittelalterlicher Brauch, 
   
   bei dem glühendes Feuer durch die Liestaler Altstadt getragen wird) und Mosaiken 
   
   eines Turmes von Antonio Gaudi; die Referenzen bleiben sich im Grunde genommen 
   
   gleich: das prasselnde Feuer, das die Künstlerin bereits in einer Version von 
   
   «Tower» (1990) verwendet hatte und ein Ausschnitt aus der Metropole Barcelona; 
   
   die Auswahl der sehr nahen Blickwinkel verleiht dieser Arbeit eine grosse Intensität. 
   
   Formal ist «Scarabeus» eine Kombination von einer vertikalen Mittelachse, die das 
   
   Feuer des «Chienbäse» zum Inhalt hat, und die von zwei breiteren Seitenachsen mit
   den bläulichen Mosaikenvon Antonio Gaudi flankiert ist. Gaudi, der in seiner Architektur sehr stark auf Naturformen zurückgegriffen hatte und das Feuer, das seit seiner Erfindung die Menschen zur Sesshaftigkeit angeregt hat, verweisen uns wieder auf Urzustände-
   und Elemente; gleichzeitig entsteht durch die Wechselwirkung des 
   
   orange-roten Feuers und der bläulichen Mosaiken ein Wärme- und Kältespiel, das 
   
   dem Werk eine gesteigerte Kraft verleiht. Formal nähert sich «Scarabeus» einer 
   
   Einfachheit, die Simone Bergers frühere Werke nicht gekannt hat: die Sujets greifen 
   
   nicht mehr ineinander über, die Elemente bleiben getrennt und sind symmetrisch 
   
   gruppiert. Die stark vergrösserten Mosaike Gaudis schlängeln sich dem Feuer entlang 
   
   hoch, rahmen es sozusagen ein.
   Die Verknüpfung verschiedener Medien dient Simone Berger als Mittel zu ihren Aussagen, hilft ihr dabei, sich zu positionieren und ihre Sichtweisen, ihren 
   
   «inneren Film» mit den Bildern der Aussenwelt auszudrücken.
   Hedy Graber